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Alltagsgeräusch via Telefon – der neue Telefonsex?

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Alltagsgeräusch via Telefon – der neue Telefonsex?

Sex and Sensibility
Blogautor: 
Helene Aecherli
Was bedeutet es, wenn ein Mann beim Telefonieren gurgelt? Ja , ich weiss: Die Welt ist so voller Katastrophen, dass man sich nicht mit Banalitäten aufhalten sollte. Aber vielleicht machen Banalitäten trotz allem Sinn, vor allem deshalb, weil sie vor dem Hintergrund der globalen Düsternisse (Finanzkrise, Hungersnöte, Terror, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Jugendrandale, Krankheiten, Seuchen) zu Leuchtkrümeln, Amüsement-Nuggets und Gedankenkitzlern werden, die von den ganz grossen Dramen ablenken. Nur so ist es zu erklären, warum ich es zuliess, mich länger als eine Minute mit der Tatsache zu beschäftigen, dass ein Mann, ein guter Freund von mir, über 25, single, ungeniert gurgelte, während er mit mir telefonierte. Ich war gerade dran, meine Ausführungen auf die Frage „Wie geht es dir“ zu beenden, als das empathische Grunzen am anderen Ende der Leitung in eine Art Blubbern überging. Ich war verwirrt. Das Blubbern hörte sich an, als würde ein Hund leise kehlig knurren und dabei  in ein Saugrohr blasen, das tief  in einem Wassernapf steckte. „Was ist los?“, fragte ich vorsichtig. „Murrst du jetzt? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Das Blubbern ging weiter, und vor meinem inneren Auge erwuchs das Bild eines Bluthundes mit dicken Pfoten und hängenden Lefzen, der mir den Weg versperrte und mich schläfrig-drohend anstarrte. Ich wurde unsicher. Hatte ich Wahrnehmungsstörungen? Geräuschhalluzinationen? Eine beginnende Schizophrenie? Oder hatte ich so etwas Unflätiges gesagt, dass der Empfänger meiner Weisheiten gar nicht anders konnte, als nur noch gutturale Geräusche von sich zu geben? Blitzschnell liess ich meine Worte Revue passieren, ortete jedoch nichts Besonderes. Ich hatte ja vor allem über mich selbst gesprochen, was aber nichts bedeuten musste, ist es doch durchaus denkbar, dass das, was ich als lapidar oder gar lustig empfinde, einen sensiblen Mann beleidigen könnte.  Oder reagierte er vielleicht betupft, weil ich in den ersten Sekunden des Gesprächs bemerkt hatte, dass ich schlechten Empfang habe, und er meinte, dass ich meinte, der miese Empfang läge nicht an meiner, sondern an seiner Umgebung? Plötzlich hörte das Knurrblubbern auf.  „Alles okay?“, fragte ich schüchtern. –  „Ja, wieso?“ -  „Du hast geknurrt.“ – „Ach ja?“ – „Ja.“ – „Ich habe mir nur eben kurz den Mund ausgespült. Mit Elmex.“ – „Du hast gegurgelt?“ -  „Ja, sicher. Wie sonst soll ich denn zu einem frischen Atem kommen?“ – „Du gurgelst, während du mir telefonierst?“ – „Jepp!“ –  „Aber, wie kannst du gurgeln, während du telefonierst?“ – „So was nennt man Multitasking, meine Liebe!“ – „Also, ich hoffe wirklich, dass du heute Abend etwas Besonderes vorhast.“ – „Nein, werde nur noch ein bisschen arbeiten.“- „Aber, warum hast du nicht warten können mit Gurgeln, bis nach dem Telefon?“ – „Zeitoptimierung, meine Liebe. Zeitoptimierung.“ Gut. Als erstes gönnte ich mir das Gefühl einer kognitiven Dissonanz: was war das eben? Eine Szene aus einer mittelmässigen amerikanischen Soap über alternde Singles? Dann labte ich mich im Luxus, mich hingebungsvoll zu ärgern. Danach kamen die üblichen selbstzerfleischenden Reflexe: Warum gurgelt ein Mann, wenn er mich am Telefon hat? Bin ich so uninteressant? Unwichtig? Ein Kumpel? Ein Neutrum? Ein Nichts? Darauf folgte die emotionale Entschärfung: Live-Gurgeln am Telefon ist wohl im besten Fall ein Zeichen von totaler Vertrautheit, im schlimmsten Fall ein Ausdruck vollkommener Respektlosigkeit; nüchtern betrachtet handelt es sich dabei wahrscheinlich bloss um einen Anflug von Flegelhaftigkeit. Doch dann, dann  kam die Erkenntnis: Es war ein Test. Ein Test für den Vorläufer eines neuen Businessmodells, einer neue Dienstleistung: „Den ganz banalen, privaten Alltag eines Mitmenschen am Telefon live miterleben“. Die logische Stufe nach dem Telefonsex. Ein Mittel gegen die Vereinsamung. 36, 4 Prozent der privaten Haushalte in der Schweiz sind Single-Haushalte, hat das Bundesamt für Statistik anfangs Woche verlauten lassen, so viele wie nie zuvor. Experten wittern darin bereits den Grund für erhöhte Mieten und steigende Gesundheitskosten. Denn wer allein wohne, sagen  sie, laufe  Gefahr, die Beziehungspflege zu anderen Menschen zu vernachlässigen, zu vereinsamen, depressiv zu werden, etlichen Süchten zu verfallen, und so weiter. Da könnte eine solche Telefonlösung wie gerufen kommen: Mithören, wie der andere kocht, mit Töpfen und Tellern hantiert, wie er ein Glas zerschlägt, sich anzieht, duscht, die Hände wäscht, gurgelt, die Toilette spült, wie er Kleider bügelt, Musik hört, das Keyboard seines Computers betätigt, vielleicht sogar Sex hat. Für 1.90 Franken pro Minute. In einer späteren Phase gibts das App dazu. Grossartig! Zugegeben, ich habe mit meiner Reaktion als Testperson versagt. Aber solche Ausreisser gehören in der Entwicklung neuer Dienstleistungen nun mal zu den Kinderkrankheiten. Man muss an der Umsetzung vielleicht noch ein bisschen schrauben, die Empfänger besser aussuchen oder sie sich freiwillig melden lassen. Aber ich bin sicher, das kommt gut.

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